Kinder stärken und schützen
Ein Kuss ist kein Muss
Statistisch gesehen sind in Deutschland jeden Tag 40 Kinder Opfer von sexueller Gewalt. Eltern und Einrichtungen dürfen nicht tatenlos zusehen. Sie können viel tun, um Kinder zu stärken und zu schützen. Das Wichtigste, was sie ihnen mitgeben können, sind Mut und ein starkes Selbstvertrauen.
Es ist der Alptraum aller Familien. Immer wieder schockieren Fälle von sexueller Gewalt an Kindern, die an die Öffentlichkeit gelangen. Und die Zahlen steigen. Eltern müssen aber nicht hilflos davorstehen. Sie können ihre Kinder schützen und eine Menge dafür tun, dass sie sich auch selbst schützen können – zum Beispiel mit einer grundsätzlichen Erziehungshaltung, die die Kinder stärkt, die eine gute Beziehung zu ihnen pflegt und sie körperlich und seelisch stark aufwachsen lässt. Birgit Westermann, Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Bistums für Eltern, Kinder und Jugendliche in Osnabrück gibt ein paar Präventionstipps für Eltern, Schulen, Kindergärten und Pfarrgemeinden:
Erziehung: Selbstbewusst und vertrauensvoll
Eine gesunde Portion Selbstbewusstsein hat noch keinem geschadet, lautet ein Sprichwort. Bei der Vorbeugung von Missbrauchserfahrungen spielt es eine zentrale Rolle. Selbstbewusstsein beinhaltet aber dreierlei: Selbstkenntnis, Selbstachtung und Selbstsicherheit. Das Fundament dafür schaffen Eltern, indem sie ihre Kinder vertrauensvoll begleiten, ihnen gut zuhören, viel Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit schenken und mit ihnen über ihre Gefühle, Ängste und Freuden sprechen. Eltern sollten in Sprache und Verhalten Respekt vorleben und das auch von ihren Kindern erwarten. Dagegen ist ein „Sich-Anpassen über die eigenen Gefühle hinweg“ heute erfreulicherweise keine Option mehr, erklärt die Psychologin. „Kinder haben das Recht, Nein zu sagen, auch gegenüber Vorstellungen und Wünschen von Erwachsenen.“
Ein ganz wichtiger Punkt sei es, mit Kindern über gute und schlechte Geheimnisse zu sprechen. Missbraucher würden ihre Opfer oft zur Geheimhaltung zwingen. Kinder seien von Natur aus sehr loyal und müssten daher ganz genau wissen: „Geheimnisse, die Angst und Bauchschmerzen bereiten, darf und muss man erzählen. Das ist kein Petzen!“
Über Gefühle sprechen und Gefühle akzeptieren
„Ein Kuss ist kein Muss“, betont Birgit Westermann. Ein gutes Beispiel: Tante Hanna kommt zu Besuch, gibt ihrem kleinen Neffen Alex ein Küsschen auf die Wange. Alex versteift sich, verzieht das Gesicht. „Dann sollten Eltern Hanna darauf hinweisen, sie auffordern, das zu lassen und die Signale des Jungen genauer wahrzunehmen.“ Bei achtsam erzogenen Kindern könne man schon früh davon ausgehen, dass sie ihre Grenzen selbst sagten. Körperliche Empfindungen und die Reaktionen dazu seien immer hochpersönlich und schützenswert und müssten respektiert werden. „Wenn Kinder so aufwachsen, lernen sie, ihren Gefühlen zu vertrauen, sie einzuschätzen und zu äußern und lassen sich bei möglichen Übergriffen nicht so leicht einschüchtern.“ Das gelte für Jungen und für Mädchen gleichermassen.
Sexualität ist kein Tabu
Sexualität ist etwas Schönes und Wertvolles. Daher ist es wichtig, dass Eltern sich grundsätzlich nicht vor dem Thema scheuen. Kinder haben ein natürliches Interesse an ihrem Körper, wollen wissen, woher sie kommen und wie sie entstanden sind. Eltern sollten Fragen klar und altersgerecht beantworten. „Sind Körper und Sexualität von Anfang an selbstverständliche Gesprächsthemen, wissen Kinder, dass sie über solche Dinge immer mit ihren Eltern sprechen können.“ Das sei ein außerordentlich wichtiger Präventionsfaktor, weil altersgemäße Informationen über Sexualität direkt davor schützten, dass jemand kindliche Neugier und Unwissenheit für seine Zwecke missbrauche, so Westermann.
Aber nicht nur das Gespräch, auch das Vorleben eines natürlichen und liebevollen Verhältnisses zum eigenen Körper, zum Beispiel über gute Körperpflege, regelmäßige Gesundheitsvorsorge und angenehme Erfahrungen in Sport und Entspannung, seien wichtige Schutzfaktoren.
Schutzkonzepte in Gemeinden und Einrichtungen
Viele kirchliche Einrichtungen und Gemeinden haben bereits Schutzkonzepte entwickelt oder sind dabei, es zu tun, um Missbrauch beziehungsweise die Gefahr sexueller Gewalt zu vermindern. „Hier ist die Kirche meines Erachtens mittlerweile auf einem guten Weg“, sagt Birgit Westermann. Der Grundsatz der Schutzkonzepte laute: „In allen kirchlichen Kontexten ist für sichere Orte und Begegnungsräume, für eine achtsame Beziehungsgestaltung und vor allem für den Respekt vor der Intimsphäre von Menschen zu sorgen“. So werden in Gemeinden unter anderem Umgangsregeln entwickelt, das Mitarbeiterverhalten kontinuierlich überprüft und angesprochen und klare Beschwerdewege aufgezeigt. Für die Psychologin, die selbst seit vielen Jahren Präventionskurse leitet, ist aber die beste Versicherung, wenn Seelsorger, Lehrer und Erzieher sich dieses Themas bewusstwürden, sich „zu einer Haltung von Achtsamkeit und Sensibilität“ verpflichteten und „Grenzen erkennen, respektieren und wichtig nehmen“.
Dabei könnten Fortbildungen, ein gegenseitiger Austausch aber auch Manuale helfen, erlaubte und nichterlaubte Gesten und Handlungen zu beschreiben: „Ein Kuss auf den Mund ist rot, eine Berührung am Arm ist grün.“ Gerade im Kontakt mit Kindern und Jugendlichen sei es wichtig, die Gefahr der Vermischung mit den eigenen Bedürfnissen zu sehen. So sollte man sich zum Beispiel fragen: „Warum umarme ich ein Kind? Weil das Kind Wärme braucht oder weil ich Wärme brauche?“ – und dann gegebenenfalls die Handbremse ziehen. Berührungen auszusparen sei allerdings keine Lösung: „Pastorale Arbeit kommt nicht ohne Nähe aus. Sonst bekommen wir eine ganz sterile Atmosphäre in unseren Einrichtungen.“
Gar nicht so einfach: Missbrauch erkennen
„Eine Missbrauchserfahrung von außen zu erkennen ist fast unmöglich“, betont Birgit Westermann. Denn Anzeichen wie Rückzug, Distanzlosigkeit, psychosomatische Beschwerden könnten auch die Folge anderer Krisenereignisse zum Beispiel sozialer Ausgrenzung oder Trennung der Eltern sein. Daher sei es ganz wichtig, sich zunächst mit Kollegen und Beratungsstellen oder Therapeuten auszutauschen. Wenn Kinder aber aktiv von einem Übergriff berichteten, sei dies unbedingt ernst zu nehmen. Eine vom Kind erwählte Vertrauensperson müsse sich um das Kind kümmern. Ihre Botschaft: „Ich bin für dich da und werde dafür sorgen, dass du in Zukunft geschützt bist.“ Weitere Hilfen durch Experten (in Abstimmung mit dem Kind) seien dann sinnvoll. Gleichzeitig, so betont Birgit Westermann, müsse man sich bei diesem Thema aber immer darüber klar sein, „dass ein vorschneller Verdacht auch die Existenz eines anderen Menschen vernichten kann.“
Astrid Fleute