Ausstellungsort "Die Villa_"

Hans Georg Calmeyer rettete viele Leben

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Blick auf ein Foto von Hans Georg Calmeyer
Nachweis

Foto: Andrea Kolhoff

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Das WIrken von Hans Georg Calmeyer wird in der Ausstellung beleuchtet. 

Eine Ausstellung in Osnabrück befasst sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und unserer Demokratie heute. Es geht auch um den Juristen Hans Georg Calmeyer, der über 2900 Juden rettete.

„Wir waren sicher, dass wir auf die Calmeyer-Liste kommen“, sagt Laureen Nussbaum (Jahrgang 1927), es war aber unklar, ob die Entscheidung rechtzeitig genug erfolgt, um eine Deportation zu verhindern. Es hat geklappt: „Unser Bescheid war von Wander unterschrieben.“ Die Freude war groß. Ihre Mutter trennte die gelben Sterne von der Kleidung, von Mänteln, Jacken, Kleidern, ein normaler Alltag war wieder möglich: Fahrradfahren, die Straßenbahn nehmen, unter Menschen gehen. Laureen Nussbaums Augen leuchten, wenn sie davon erzählt. Ihr Zeitzeugenbericht ist in einem kleinen Videoclip zu sehen, der in der Ausstellung „Demokratie zählt!“ im Ausstellungsgebäude „Die Villa_“ in Osnabrück abgerufen werden kann. Deutsche und niederländische Juden und Jüdinnen berichten von Erfahrungen mit der Calmeyer-Behörde im Reichskommissariat der deutschen Besatzer in Den Haag, und wie es war, die Deportation vor Augen zu haben.

Auch Femma Fleijsman-Swaalep erinnert sich beim Zeitzeugeninterview noch gut an damals. Sie war 15 Jahre alt, als sie deportiert wurde, Calmeyer hatte ihren Antrag abgelehnt. Im Video berichtet sie von ihrer Zeit im KZ Bergen-Belsen und später in Auschwitz. Sie hat das Lager überlebt, auch die Zeit in der Krankenstation, bei der der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele morgens die Patientinnen bestimmte, die in die Gaskammern geführt werden sollten. Als Femma nach Kriegsende zu ihren Eltern zurückkehrte, haben diese sie zunächst nicht einmal erkannt. 

Die Aussagen der beiden Frauen und die von weiteren Personen, zum Beispiel von Robert van Galen, dessen Mutter gerettet wurde, zeigen das Dilemma, in dem der Osnabrücker Hans Georg Calmeyer als Jurist im Reichskommissariat in Den Haag stand. Den deutschen Besatzern lagen die Angaben aus dem niederländischen Melderegister vor, in dem auch die Religionszugehörigkeit vermerkt war. Calmeyer und seine Mitarbeiter ermöglichten es, zur Religionszugehörigkeit neue Angaben zu machen; die Menschen versuchten, Beweise vorzulegen, die ihre jüdische Abstammung negierten. Solange dieses Verfahren lief,  wurde die Anordnung zur Deportation ausgesetzt, bis seine Angaben, er sei nicht jüdisch, bewiesen waren, indem ein Taufschein vorgelegt wurde oder die Versicherung, dass man das Kind eines Seitensprungs mit einem arischen Vater sei. Auch sogenannte Halbjuden waren vor der Deportation geschützt. Zeitzeugen berichten, Calmeyer habe auch Fälschungen akzeptiert. Insgesamt konnten so etwa 2900 Personen vor der Deportation bewahrt werden, weil sie entweder als nicht volljüdisch deklariert wurden oder genügend Zeit gehabt hatten, um unterzutauchen. 

Dass dabei nicht alle gerettet werden konnten, hat Calmeyer offenbar selbst geschmerzt, wie er später in einem Interview sagte. Das Rettungsboot sei viel zu klein gewesen. Während die israelische Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ihn als einen „Gerechten unter den Völkern“ ehrt, betrachten Verwandte deportierter Juden Calmeyer als Nazi, als eindeutigen Teil des Systems. Welche Meinung die Museumsbesucher dazu haben, können sie am Ende der Ausstellung kundtun, indem sie sich an einer Abstimmung beteiligen und verschiedenen Aussagen zustimmen, etwa „Nur als Teil des Systems konnte er viele retten“, „Calmeyer war ein Schreibtischtäter“ oder „Calmeyer sabotierte bewusst das System“. Diese „Abstimmung“ fällt bei längerem Nachdenken nicht leicht und führt den Besuchern vor Augen, dass wir als Nachgeborene es nicht wirklich wissen können, was ihn umtrieb. Die Zeitzeugenberichte legen aber nahe, dass sein Wirken innerhalb des Systems auch für ihn gefährlich war.

Die Ausstellung wird in einem Gebäude gezeigt, das in Osnabrück als Villa Schlikker bekannt ist und ab 1932 der NSDAP als Parteizentrale diente. Das Haus war in der Nazizeit also Schaltzentrale der Macht. In diesen Räumen präsentieren die Ausstellungsmacher Texte und Gegenstände, die erläutern, wie schnell in einer Diktatur demokratische Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde abgeschafft werden können. Propaganda und Staatsterror halfen den Nazis, die Bevölkerung einzuschüchtern und auf Linie zu bringen oder sogar von ihrer menschenverachtenden Ideologie zu überzeugen. Statt Herzensbildung zu erhalten, wurde die Jugend indoktriniert, was viele nach dem Zweiten Weltkrieg erkennen mussten. 

Um aus der Vergangenheit lernen zu können, versteht sich die Ausstellung in der „Villa_“ auch als Debattenraum und Lernort für Schulklassen und Jugendgruppen. Es können Führungen und Workshops für Jugendliche ab 15 Jahren unter gollmann@osnabrueck.de gebucht werden. 

Aber auch jeder einzelne Besucher kann sein Verständnis von einem individuellen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte überprüfen. Würde man selbst wegsehen oder sich einmischen, sich raushalten oder aktiv werden? Am Eingang erhält man ein Armband mit einem Chip, mit dem man an verschiedenen Stationen Fragen beantworten kann und später die AuswertunBlick auf ein Drehradg erhält. 

Welcher Demokratietyp bist du? Dabei geht es um Situationen, in die man unversehens geraten kann, wie das „Rad der Entscheidung zeigt“. Zum Beispiel: Man beobachtet eine Situation, in der ein Teenager homophob beleidigt wird und, den Tränen nahe, aus der Situation entfliehen möchte. Frage: Wie kann ich als Passant reagieren? Drei Möglichkeiten stehen zur Auswahl: Ich helfe der Person, ich hole Hilfe von anderen oder ich tue nichts. Letzteres scheint nicht die optimale Antwort zu sein. Wer diesen Weg wählt, bekommt als Kommentar: „Nichtstun ist keine Lösung. Deine Hilfe wird gebraucht. Auch als Zeuge bist du wichtig.“

 

Andrea Kolhoff

Am Montag, 15. November, berichtet der Niederländer Robert van Galen über das Leben seiner Mutter Ruth van Galen. Sie wurde von Hans Georg Calmeyer zusammen mit ihren älteren Geschwistern gerettet, während die Eltern deportiert und im KZ ermordet wurden. Ruth van Galen hat im Alter von 83 Jahren ein Buch über Calmeyer geschrieben. Der Vortrag mit Gelegenheit zum Gespräch beginnt um 19 Uhr im Saal des Kulturgeschichtlichen Museums, Lotter Straße 2. Der Eintritt ist frei.