Digitale Ausstellung über russische Straßenkunst

Kreativer Widerstand

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Digitale Ausstellung „No wobble!"
Nachweis

Fotos: Ausstellung „No wobble!“ – „Нет вобле!” Russian Anonymous Street Art Against War 2022/23

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Collage der Exponate der digitalen Ausstellung

Streetart ist Kunst im öffentlichen Raum, etwa Graffitis und Bilder auf Fassaden. In Russland protestieren Menschen damit gegen die Invasion in der Ukraine. Eine Online-Ausstellung zeigt Straßenkunst gegen den Krieg.

Ballerinas tanzen auf den Fußspitzen, in der oberen Reihe drei, in der unteren Reihe fünf. Die Zeichnung auf einem Blatt Papier klebt an einer Betonwand in einer Stadt in Russland. Man könnte meinen, hier hat ein Patriot seine Liebe zum russischen Ballett ausgedrückt. Nicht wenige erkennen jedoch die Botschaft im Vorbeigehen – und wissen dann: Sie sind nicht allein. Denn auch die Zeichnerin oder der Zeichner ist offenbar gegen den Krieg. Sie oder er hat den Protest gegen Putins Invasion in der Ukraine heimlich an der Wand hinterlassen. Die acht Ballerinas chiffrieren den russischen Ausdruck für „Nein zum Krieg“. „Net Woine“ – zwei verbotene Wörter mit drei und fünf Buchstaben.

Nicht nur das Kleben solcher Botschaften ist strafbar, auch das Verbreiten. Jemand hat es dennoch gewagt, ein Handybild zu machen, um es an den Telegram-Kanal von Alexandra Archipowa zu schicken. Die Sozialwissenschaftlerin, die in Paris lebt und arbeitet, sammelt Bilder von Streetart gegen den Krieg. Sie wolle zeigen, dass „es auch in Russland Menschen gibt, die gegen das alles sind“, erklärt sie im Interview. „Es gibt in Russland eine sehr, sehr kleine, eingeschränkte Möglichkeit zu protestieren, und die Leute nutzen das.“ Vor allem auch, um sich gegenseitig zu unterstützen. Denn Kriegsgegner in Russland sind einsam. Wer anderen öffentlich seine Haltung mitteilt, riskiert Strafen bis hin zu Gefängnis. Da sind „die Aufkleber, die Graffitis, eine Methode, zu zeigen: Du bist nicht allein“, erklärt Archipowa.

Seit ihrem Aufruf im März 2022 – Archipowa lebte und forschte zu der Zeit an der Universität Bremen – hat sie hunderte Bilder aus Russland erhalten, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Juri Lapschin zu einer Online-Ausstellung zusammengestellt hat. Zu sehen sind kleine Aufkleber in U-Bahnen, größere Zeichnungen auf Papier an Wände plakatiert, kleine Männchen aus Knete mit einem Zettel vor dem Bauch, die in Cafés und auf Geländern stehen, Graffitis an Laternen. Ein Team half Archipowa, die Botschaften auszuwerten, zu katalogisieren, die Orte zu kartieren, an denen sie aufgetaucht sind, und ihre Aussagen zu entschlüsseln. Manche Botschaften sind offensichtlich und manche nur verständlich, wenn man die Sprache der Protestbewegung versteht. Manches ist künstlerisch anspruchsvoll, wird der Streetart, der oft illegalen Kunst der Straße, zugeordnet, manches ist plakativ, vieles ist witzig, hintergründig und kreativ.

Fisch als Namensgeber der Ausstellung

So wie der durchgestrichene Fisch. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es Tierschützer sind, die dazu aufrufen wollen, keine Wobla mehr zu essen, den in Russland beliebten, gesalzenen und getrockneten Fisch. Eine beabsichtigte Tarnung. Denn „Nein zu Wobla“ klingt im Russischen ähnlich wie „Nein zum Krieg“ und besteht ebenfalls aus drei und fünf Buchstaben. Lange war „Nein zu Wobla“ ein relativ ungefährlicher, für Eingeweihte verständlicher Protest. Der durchkreuzte Fisch tauchte an vielen Orten auf und wurde auch zum Namensgeber für Archipowas Online-Ausstellung.

Es sind diese indirekten Protestformen, die Archipowa besonders beeindrucken. Nicht nur, weil sie länger sichtbar sind, später entschlüsselt und überdeckt werden als beispielsweise Graffitis mit direkten Botschaften wie „Putin ist ein Mörder“. Die indirekten Botschaften zeigen die ganze Kreativität der Protestierenden. So zum Beispiel, wenn in der Nachbarschaft nach einem entlaufenen Hund gesucht wird. An einem Laternenmast hängt ein Zettel mit dem Foto des Hundes. Wer näher herankommt, erfährt, dass der Hund „Frieden“ heißt, dass er von einem Mann mit Botoxspuren im Gesicht gestohlen wurde und dass nicht nur die Preise steigen werden, sondern auch Freiheit, Sicherheit und jegliche Hoffnung verloren gehen, wenn „Frieden“ nicht zurückgebracht wird.

Am Anfang sei der Antikriegsprotest ein einziger Schrei gewesen, erklärt Juri Lapschin, und meint damit die plakativen Botschaften. Doch „unter Druck wurde daraus Kreativität“, sagt er. Für ihn zeigt sich darin Schwachheit und Kraft zugleich. Denn die kleinen Figürchen aus Kinderknete wurden von Menschen gemacht, „die vorher keine Künstler waren“, erklärt Lapschin. Er sieht darin eine neue gesellschaftliche Initiative. „Die Menschen lassen sich darauf ein, werden zu Autoren und handeln kreativ.“

Und manchmal besteht die Kunst in einem einzigen Strich. Zeichenkrieger nennt Archipowa jene Menschen, die Kriegssymbole in ihr Gegenteil verwandeln. So zum Beispiel, wenn sie eine weitere diagonale Linie durch das Kriegszeichen „Z“ ziehen. „Herauskommt eine Sanduhr“, erklärt Archipowa, „ein Zeichen für Putin, zu gehen“. Und dessen Zeit werde „definitiv ein Ende haben“, sagt Lapschin, „denn der Sand in der Uhr rieselt unaufhaltsam nach unten“.

Barbara Dreiling

Digitale Ausstellung „No wobble!“ – „Нет вобле!” unter www.nowobble.net 
Erklärungen zu den Bildern auf Englisch und Russisch