Else Ury, Autorin des Nesthäkchens, starb vor 75 Jahren in Auschwitz

Nesthäkchen lebt weiter

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Wer weiß heute noch, was ein Nesthäkchen ist? Die Jüngste der Familie. Und was ist ein Backfisch? So hießen ganz früher Mädchen in der Pubertät. Mit der Schilderung eines Nesthäkchens und seiner Abenteuer wurde die Berliner Autorin Else Ury eine der Königinnen des Backfisch-Romans. Nur wenige wissen, dass Else Ury im Konzentrationslager starb. Von Ruth Lehnen.

Ab 1913 erschien die Mädchenbuch-Reihe rund um die kleine, kesse, blonde Annemarie Braun, die mit zwei Brüdern, ihren Eltern, Dienst- und Kindermädchen und ihrer geliebten Puppe Gerda in Berlin lebt. Eine zumeist heitere Welt schilderte Else Ury in ihren Bestsellerromanen für Mädchen. Viele lieb(t)en vor allem das „Nesthäkchen“.

Vom Erfolg beflügelt, entschied sich Else Ury, ihr Nesthäkchen durch sein ganzes Leben zu begleiten: Auch nach der Hochzeit, mit der die anderen „Backfischromane“ endeten, verfolgten die Leserinnen, wie es mit Annemarie Braun weitergeht. Der letzte Band erschien 1925 und hieß „Nesthäkchen im weißen Haar“.

Das Nesthäkchen und seine Beliebtheit haben Ury nicht gerettet

Nesthäkchen und ihre anderen Romane für Kinder wie „Professors Zwillinge“ bescherten Else Ury Ansehen und finanziellen Erfolg. Doch das Nesthäkchen schützte Ury nicht vor der Verfolgung der Nationalsozialisten: Als Jüdin durfte sie ab 1933 nicht mehr publizieren. Ihre Bücher wurden aus den Büchereien entfernt, der Autorin nach und nach die Lebensgrundlagen geraubt. Innerhalb weniger Jahre verlor sie ihre Arbeit, ihr Geld, ihre Wohnung, ihre Familie. Ihr Bruder Hans nahm sich 1935 das Leben, andere Familienmitglieder flohen ins Ausland.

Else Ury blieb, kehrte sogar von einer London-Reise 1938 wieder nach Deutschland zurück. Sie wollte ihre alte und kranke Mutter nicht alleinlassen. Als diese im April 1940 im Alter von 93 Jahren starb, war es zu spät. Else Ury konnte nicht mehr fliehen, ihre letzte Station war ein so genanntes Judenhaus in Berlin-Moabit, von dort aus wurde sie am 12. Januar 1943, vor 75 Jahren, nach Auschwitz deportiert, wo sie am 13. Januar 1943 ermordet wurde. Sie war 65 Jahre alt. Ein Koffer von ihr hat sich dort erhalten, beschriftet mit dem ihr von den Nazis aufgedrängten Zwangsnamen Sara: „Else Sara Ury, Berlin Solinger Straße 10“.

Else Ury war tot, Nesthäkchen lebte weiter. Zwar waren die Bände während der Nazizeit und später in der DDR verboten, aber man kann davon ausgehen, dass sie unter der Hand weiter gelesen wurden. Nesthäkchen bekam ungewollt sogar noch eine Schwester: Magda Trott sollte wohl Ersatz schaffen für die beliebte Buchreihe und schuf ab 1935 „Försters Pucki“, ein zackiges Mädchen vom Land, dessen Zurichtung zur gehorsamen Ehefrau weitaus rabiater vor sich geht als beim Nesthäkchen.

Nach dem Krieg erlebte das Nesthäkchen eine erstaunliche Wiederauferstehung: Überarbeitet, stark gekürzt, viel klischeehafter erschienen die Bände wieder (bis auf „Nestkäkchen und der Weltkrieg“, siehe unten) und erlebten Auflage um Auflage. Die Buchumschläge wurden neu gestaltet und suggerierten eine moderne Geschichte für Kinder, und bis weit in die 90er Jahre begeisterte das Nesthäkchen wieder die Mädchen, befeuert besonders durch die Verfilmung als Weihnachtsserie im Jahr 1983. Heute hat diese Serie eine eigene Facebook-Seite, und Nesthäkchen in der älteren Generation einen Bekanntheits- und Nostalgiewert von gefühlten 99 Prozent. Das ehemalige Ferienhaus von Else Ury im früheren Krummhübel, heutigen Karpacz in Polen, ist ein Museum.

Niemand kann Nesthäkchen lange böse sein

Wiedergelesen erschließt sich die Faszination der Buchreihe nicht mehr so ganz. „Das knospte und blühte ja von vielen hundert kleinen Mädchenblümchen, das zwitscherte und jubilierte aus kirschroten Schnäbelchen ...“ („Nesthäkchens erstes Schuljahr“) – das Delirium der Verkleinerungen nimmt die heutige Leserin der Autorin übel.
Gerade vor dem Hintergrund dessen, was Else Ury erleiden musste, wirkt das Nesthäkchen harmlos. Es ist ein eigenwilliges, hin und wieder mutwilliges Mädchen, aufgelegt zu Streichen und Spaß. Nesthäkchen ist lustig und im Grunde lieb, und die Episoden nach dem Muster: „Regelübertretung, Reue, alles wieder gut!“ lassen lächeln: Wenn’s Leben so einfach wär!

Tipp: Marianne Brentzel: Mir kann doch nichts geschehen... Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury. ebersbach-simon, 183 Seiten, 16,80 Euro

 

Zur Sache:

Als Band vier der Nesthäkchen-Reihe erschien 1922 „Nesthäkchen und der Weltkrieg“. Dies war der einzige Band der Reihe, der nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder erschien. Er landete auf der Zensurliste der alliierten Kontrollbehörden, galt als kriegsverherrlichend. Der Geest-Verlag hat das Buch mit einem einordnenden Vorwort wieder herausgebracht, in Frakturschrift.

Else Ury: Nesthäkchen und der Weltkrieg, Neuauflage mit einem Vorwort von Marianne Brentzel, Geest-Verlag, 227 Seiten, 12,50 Euro