Die Botschaft von fast 100 Jahre alten Briefen

Vom Priesterseminar in den Krieg

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477 Briefe aus dem Krieg aus den Jahren 1914 bis 1919, von 77 Angehörigen des Mainzer Priesterseminars, vom Erstsemester bis zum Kaplan: Maximilian Künster hat sie erforscht. Wie liest der Theologe 100 Jahre später die Zeugnisse der Altersgenossen? Von Ruth Lehnen

 

Eben noch lernten sie, heiligmäßig und tugendhaft zu leben. Und dann, mit der Waffe auf andere loszugehen. Aus der strengen Ordnung des Priesterseminars wechselten gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 viele junge Männer in die militärische Grundausbildung: „Hier wurde die Bereitschaft zum Töten trainiert. Mit Bajonetten mussten sie auf Puppen einstechen“, berichtet Maximilian Künster. Er hat den größten Bruch im Leben der Angehörigen des Mainzer Priesterseminars vor 100 Jahren genau studiert. 477 Briefe und Postkarten an den damaligen Regens Dr. Joseph Blasius Becker haben sich im Seminararchiv erhalten. Künster ist wohl der einzige, der 100 Jahre später sagen kann, dass er sie alle gelesen hat. Der 25 Jahre alte Theologe hat eine Magisterarbeit über sie geschrieben. Die Themen: Der Krieg, das Standesdenken, der Schock, der Tod, und die Frage nach Gott.

 

70 Priesteramtskandidaten zählte das Seminar im Jahr 1912. Der Krieg machte unter den jungen Männern einen Unterschied: Wer noch keine höhere Weihe empfangen hatte, musste ins Feld einrücken wie alle anderen. Das Zusammensein mit Menschen aller Weltanschauungen und sozialen Schichten war für viele sehr ungewohnt. Wer schon höhere Weihen empfangen hatte wie die Subdiakone und Diakone, war vom Dienst an der Waffe ausgenommen. Allerdings wurde diese Gruppe zum Sanitätsdienst oder zur Militärseelsorge herangezogen. Die Kriegserfahrungen der beiden Gruppen unterschieden sich sehr stark.

„Das schreckliche Sperrfeuer der rumänischen Batterien“

Der damalige Bischof Georg Heinrich Kirstein war am Tag der Generalmobilmachung zur Kur in Bad Homburg. Er schrieb sofort ein Telegramm an Regens Joseph Blasius Becker, dass die Subdiakonenweihe vorverlegt werden sollte. So versuchten der Bischof und Becker, die Priesteramtskandidaten vor den Schützengräben zu bewahren. Es gelang nicht immer: 30 mussten den Dienst an der Waffe leisten, 14 kamen dabei ums Leben.

Einen geordneten Seminarbetrieb hat es in den Kriegsjahren nicht gegeben, das Seminar war weitgehend verwaist. Regens Becker versuchte, den Kontakt zu den jungen Männern zu halten, die ihm anvertraut waren: Erbauungsliteratur wurde ebenso an die Front geschickt wie warme Socken und Zigaretten.

Und die Adressaten zeigten sich dankbar und verbunden. Sie schickten Glückwünsche zum Namenstag mit einem Obstkörbchen vorne auf der Bildpostkarte, oder „Fröhliche Ostern“ aus dem Krieg oder herzliche Neujahrsgrüße zum Jahresbeginn 1918. Manche wurden ausführlicher: „Der Rumäne unter französischer Führung verteidigt sein eigenes Land. Verwundete macht er alle tot. ... Aber immer das schreckliche Sperrfeuer der rum. Batterien. Trotz allem bin ich gesund, froh und wohlgemut. Weiß selbst nicht, wie es möglich ist. Seit Sonntag nicht gewaschen. Kein Wasser zum Trinken und für die Verwundeten“, schreibt Robert Rainfurth am 12. 8. 1917 an den Regens.

Alois Renkel schickte einen Kriegsbericht in acht Folgen und schilderte die Schreie der Verwundeten. „Der Soldat, der von dem Kopfschuss eines Kameraden berichtet oder von Gefallenen, die vom Kopf bis zu den Füßen in den Schlamm eingetreten sind, das sind Bilder, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen“, sagt Künster. Er hat sich beim Lesen und Forschen oft gefühlt, als wäre er mit dabei gewesen: „Das ist das Erschreckende, aber auch das, was einen packt und fesselt.“

Er hat die Geschichte von Männern erforscht, die ihm über die Zeit hinweg nahe sind: Sie waren jung wie er und Theologen wie er. Er denkt an sie als Menschen, die gerade erwachsen werden, gerade mit der Schule fertig sind, ihr eigenes Leben beginnen wollten. Und dann kam der Krieg: „Das Leben war für viele beendet, als diese neue Lebensphase gerade erst angefangen hatte.“

Der Krieg als „Examen der Buße“, die Gutes hervorbringt

In seiner Forschungsarbeit hat Künster auch ein Schlaglicht auf die Kriegstheologie geworfen. Solche Töne sind da zu hören: „Der Krieg hat vor sein Gericht geladen die moderne, widerchristliche, religionslose Geisteskultur und hat ihren Unwert, ihre Hohlheit und Geisteslosigkeit, ihre Schuldhaftigkeit aufgedeckt“, schreiben die Erzbischöfe und Bischöfe des Deutschen Reiches im Dezember 1914: „Das Gottesgericht des Krieges ist offenbar geworden.“

Der Erste Weltkrieg sei von den meisten Vertretern des deutschen Katholizismus bejaht und für legitim gehalten worden, sagt Künster. Mehr noch: Man meinte, der Krieg als „Examen der Buße“ werde Gutes hervorbringen. Der „ekelerregende Dienst im Lazarett“ und die „Aufopferung an der Front“ sollte zu einem gefestigten Charakter führen und auf den späteren Dienst als Seelsorger vorbereiten. Paul Wilhelm von Keppler, Bischof von Rottenburg, schrieb 1914 das Buch „Leidensschule“, das Regens Becker an seine Zöglinge verschickt hat. Es tat seine Wirkung. „Die Mainzer Priesteramtskandidaten zeigten die Tendenz, das Kreuzesopfer Christi mit dem Lebensopfer der Soldaten im Feld gleichzusetzen,“ hält Künster fest.

Am Ende des Krieges hatten 70 als Krankenwärter oder gewöhnliche Soldaten am Krieg teilgenommen. 14 kehrten nicht nach Hause zurück. Viele erlitten Verwundungen. Acht gaben infolge dessen, was sie im Krieg erlebt hatten, ihren Berufswunsch, Priester zu werden, auf. Regens Becker leitete noch den Neuanfang nach dem Krieg ein, er blieb Regens bis 1920.

Ruth Lehnen