Gedichte und Poetry Slam einer Christin
Von Motten und Menschlichkeit
Foto: Luca Motz
Leah Weigand steht auf der Bühne und erzählt eine Geschichte. Die Scheinwerfer sind auf sie gerichtet. Sie hält keinen Zettel in der Hand, spricht frei, gestikuliert mit ihren Armen. Sie spricht mal laut, mal leise, mal schnell, mal langsam ins Mikrofon. Verstellt auch mal ihre Stimme. Sie präsentiert ihr Gedicht ein bisschen, als wäre sie eine Schauspielerin. Alle Aufmerksamkeit ist bei ihr, im Publikum ist es still. Weigand sagt: „Meine Erinnerungen waren immer das Kostbarste, was ich hatte, und mit meinen Geschichten habe ich nicht ungern geprahlt; waren wohl das Teuerste, was ich jemals besaß, denn für sie hatte ich mit meinem Leben gezahlt.“
In der Geschichte geht es um Clara, eine Frau, die an Demenz erkrankt ist. Weigand spricht aus der Ich-Perspektive von Clara. Sie vergleicht die Demenz mit Motten, die sich im Kleiderschrank verkriechen. So wie die Motten Löcher in Pullover fressen, frisst sich die Krankheit in Claras Erinnerung.
„In meinen ersten Texten ging es schon viel um meinen Glauben“
Zu diesem Text habe sie bisher die meisten Rückmeldungen bekommen, erzählt Weigand. Menschen aus dem Publikum kamen zu ihr, dankten ihr und sagten, dass sie ihre Mutter in der Geschichte wiedererkannt hätten. Oder sie sagten: „Du hast meinen Gefühlen eine Sprache gegeben. Du hast etwas ausgedrückt, was ich bisher nur fühlen konnte.“ Das ist für sie das schönste Kompliment.
Die Marburgerin Weigand (28) hat schon immer gern geschrieben. Mit 19 nahm sie das erste Mal an einem Poetry Slam-Wettbewerb teil. 2021 gewann sie die hessischen Meisterschaften im Poetry Slam, 2022 kam sie ins deutschsprachige Finale. In ihren Texten geht es um alles, was sie beschäftigt: Sie schreibt von ihrem Opa, der ihr großes Vorbild war, von Worten, die niemand mehr benutzt, vom Kakaoanbau in armen Ländern – und immer wieder von ihrer Arbeit als Krankenpflegerin und ihrem Glauben.
Aufgewachsen ist Weigand in einer evangelikalen Freikirche. Später distanzierte sie sich von ihr, doch sie behielt ihre Beziehung zu Gott. „In meinen allerersten Texten ging es schon viel um meinen Glauben“, erinnert sie sich. In dem Text „Kirchenträume“ spricht Weigand davon, wie sie sich eine gute Kirche vorstellt. Wer sich das Video von ihrem Auftritt auf YouTube anschaut, hört, wie aus dem Publikum immer wieder anfeuernde Rufe kommen. Sie beschreibt die Kirche als Mensch, „mit Ohren zum Zuhören und Augen zum Hinschauen, Beinen zum Hingehen, doch ohne Füße zum Abhauen, mit Händen zum Machen und einer Hüfte zum Bücken, mit Mündern zum Lachen und einer Brust zum Drücken, mit Lippen zum Sagen und Zungen zum Schweigen, Armen zum Tragen, doch ohne Finger zum Zeigen“.
Wenn Weigand auf der Bühne über ihren Glauben spricht, dann predigt sie nicht. „Ich will damit nicht Menschen überzeugen oder missionieren. Es ist einfach nur ein Ausdruck meiner persönlichen Glaubenswelt und der hat kein Ziel“, sagt sie. So wie Kunst für sie grundsätzlich erst mal zwecklos sei. Weigand findet die Idee schön, die ein Freund von ihr mal hatte, nämlich dass auch Gott „ein Spoken-Word-Künstler ist“. Denn immerhin habe er die Welt erschaffen, indem er sprach. Weigand sagt: „Kunst ist einfach nur da. Sie kann den Blick stören, kann einfach nur ein Ausdruck von Schönheit sein. Und das wünsche ich mir auch für meine Texte.“
„Ich werde gekniffen, bespuckt und berotzt“
Bekannt wurde Weigand durch einen Text, in dem sie über ihre Arbeit als Krankenpflegerin sprach. Sein Titel: „ungepflegt“. Sie trug ihn in der WDR-Show „Was kann der Mensch?" vor. Unter dem YouTube-Video schrieben andere Pflegekräfte, wie gut Weigand ihre Situation auf den Punkt gebracht habe. In dem Text schreibt Weigand: „Ich werde gekniffen, bespuckt und berotzt und manchmal bin ich ganz unmetaphorisch angekotzt.“
Heute studiert Weigand Medizin, sie wird also weiter im Gesundheitssystem arbeiten. Denn sie fand darin nie alles schlecht. Sie erinnert sich auch an viele bewegende Momente aus ihrer Zeit als Pflegerin. Momente, in denen Patienten so schwach waren, dass sie das Gefühl hatte, da war gar nicht mehr viel übrig von dem Menschen, der er mal gewesen war.
„Es gibt eine dramatische Erinnerung, die ich wahrscheinlich auch nie vergessen werde“, sagt Weigand. Es war während der Corona-Pandemie, sie hatte damals Nachtschicht und betreute einen Mann, der im Sterben lag. Er konnte nicht mehr sprechen, hatte keine Kraft, sich zu bewegen, und bekam wegen der Kontaktbeschränkungen kaum Besuch von seiner Familie.
Weigand saß immer wieder an seinem Bett und hielt seine Hand. Wenn sie aufstehen und einen anderen Patienten versorgen wollte, hielt der Mann, der sich nicht mehr anders ausdrücken konnte, ihre Hand fester. „Ich habe gemerkt, er wollte nicht alleine sein“, sagt Weigand. Der Händedruck hat ihr gezeigt: „Wir Menschen brauchen einander.“
Hintergrund:
Im März ist Leah Weigands Buch „Ein wenig mehr Wir“ erschienen – eine Gedicht-Sammlung, die uns persönlich und unsere gesamte Gesellschaft nachdenklich wie hoffnungsvoll unter die Lupe nimmt. Knaur Verlag, 160 Seiten, 18 Euro