Schwerpunkt: Spenderkinder und die moderne Fortpflanzungsmedizin
Wer sagt mir, wer mein Vater ist?
Foto: IMAGO/Pond5 Images
Ein Spenderkind berichtet
Schon als Kind hat Thorsten das Gefühl, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt. In seiner Familie fühlt er sich „wie ein Fremdkörper, nicht dazugehörig“. Seinen „sozialen Vater“, wie der heute 46-Jährige sagt, beschreibt er als kalt, abweisend, teils sogar gewalttätig. Umarmungen gibt es keine. Mit seinem vier Jahre später geborenen Bruder, den der Vater liebevoll und fürsorglich behandelt, hat er keine Gemeinsamkeiten. „Wir sind grundverschieden im Denken, Handeln, Fühlen und im Aussehen“, sagt er. In der Pubertät kommt ihm der Gedanke, er sei „vielleicht im Krankenhaus vertauscht worden“. Die Eltern reagieren ungehalten. „Du fantasierst“, sagen sie.
Trotz einer depressiven Phase geht Thorsten seinen Weg: beruflich wie privat. Er arbeitet im Gesundheitsbereich, macht sich später in einem anderen Metier selbstständig. Er heiratet. Seine Frau ist Lehrerin, das Paar hat drei Kinder. „Uns geht es gut“, sagt Thorsten.
Da er sich für Ahnenforschung interessiert und seine Mutter eine, wie er sagt, „spannende Auswanderungsgeschichte“ hat, mit Verwandten in Italien, Deutschland und in den USA, gibt Thorsten 2021 bei der Genealogie-Plattform „MyHeritage“ eine Gen-Probe von sich ab. Das Unternehmen hat sich auf das Erstellen von Stammbäumen spezialisiert. Und tatsächlich gelingt es, einige zuvor verschollene Verwandte ausfindig zu machen.
2022 erreicht ihn ein Brief der Organisation. „Herzlichen Glückwunsch, wir haben ihren Halbbruder gefunden.“ Thorsten fällt aus allen Wolken. Von einem Halbbruder weiß er nichts. Zunächst vermutet er, sein Vater könnte seiner Mutter untreu gewesen sein. Doch die Eltern bestreiten den Verdacht. Thorsten recherchiert weiter und irgendwann kommt ihm der Gedanke, er entstamme womöglich einer Samenspende. Bei einem Familienbesuch gesteht die Mutter unter Tränen, dass er recht hat. Die Familie habe bis zur Geburt von Thorstens Halbbruder gedacht, dass der Vater zeugungsunfähig sei, und deswegen auf die Dienste eines Gynäkologen zurückgegriffen.
„Ich wurde im Hinterzimmer eines Frauenarztes gezeugt“
Plötzlich ergibt alles Sinn: Sein Gefühl der Entwurzelung, diese merkwürdige Fremdheit beim Blick in den Spiegel, das abweisende Verhalten des Vaters, der so verschiedene Bruder. Heute weiß Thorsten: „Ich wurde 1977 im Hinterzimmer eines Frauenarztes gezeugt.“ Rechtliche Regelungen für künstliche Befruchtungen gab es damals kaum. Den Frauen wurde das noch handwarme Sperma von oft mehreren Spendern per Katheter in den Unterleib eingeführt. Die Möglichkeit Körperzellen einzufrieren oder Gentest gab es noch nicht. „Es wurde nur kurz geguckt, ob Haar- und Augenfarbe des Spenders passen“, sagt Thorsten. Eine Chance, seinen leiblichen Vater kennenzulernen, hat er nicht. Die beteiligten Ärzte sind inzwischen verstorben, das Spenderregister wurde erst viel später eingerichtet.
„So wie mir, geht es vielen“, sagt Thorsten. Inzwischen hat er sich dem Verein „Spenderkinder“ angeschlossen. Darin engagieren sich rund 300 durch Samenspenden gezeugte Menschen, unterstützen sich gegenseitig psychisch, helfen sich bei der Suche nach den genetischen Vätern.
Insgesamt gibt es deutschlandweit nach Schätzung eines Reproduktionsmediziners rund 125 000 Kinder, die mit Fremdsamen gezeugt wurden. „Die meisten von ihnen wissen wahrscheinlich nichts von ihrer Herkunft“, vermutet Thorsten. Auch seine Eltern hätten ihr Geheimnis „wohl mit ins Grab genommen“, sagt er. Von den jahrzehntelangen Lügen seiner Eltern fühlt er sich mehr als nur betrogen. „Ich bin missbraucht worden.“
„Ich kann nicht verstehen, dass man an der Natur rumdoktert und in die Schöpfung reinpfuscht“
Den Kinderwunsch seiner Mutter, von Menschen generell, kann Thorsten zwar nachvollziehen, „aber ich kann nicht verstehen, dass man dafür an der Natur rumdoktert und in die Schöpfung reinpfuscht“, sagt er. Den aktuellen Trend sogenannter Wunscheltern, sich in modernen, auf Gewinn ausgelegten Reproduktionskliniken ein „Kind quasi zu kaufen“ nennt er „Egoismus pur“. Zudem gebe es die Möglichkeit der Adoption. Thorsten ist früher viel durch Südostasien gereist und hat dort das Leid vieler Waisen- und Heimkinder gesehen. „Die wären alle froh, hätten sie Eltern“, sagt er.
Aktuelle Überlegungen der Bundesregierung zur Legalisierung von Eizellspenden oder eventuell sogar der Leihmutterschaft bezeichnet Thorsten aus Sicht der späteren Kinder als unverantwortlich. Obwohl er keiner Kirche angehört, ist er gläubig und kann die Haltung des Vatikans, der künstliche Befruchtung ablehnt, gut nachvollziehen. „Genetische Verbundenheit spürt man einfach. Es ist eben nicht alles nur Erziehung und Umwelt“, sagt er. Im Katechismus der katholischen Kirche heißt es dazu sinngemäß: Durch das Einschalten einer dritten Person, egal ob bei der Ei- oder Samenspende, werde die Gemeinschaft von Eltern und Kind aufgelöst oder zumindest schwer belastet.
Auch für die sogenannten Samenspender hat Thorsten wenig Verständnis. „Das ist keine Spende. Die meisten Männer machen das nur aus monetären Interessen.“ Bei den Recherchen über seine eigene Herkunft fand Thorsten heraus, dass es in Holland einen Samenspender gibt, der rund 550 genetische Kinder hat. Auch in Deutschland soll es einen Fall geben, bei dem rund 50 Kinder aus dem Samen nur eines Mannes gezeugt wurden. „Das birgt die Gefahr von Inzucht, weil dessen Nachkommen ja nichts voneinander wissen“, sagt Thorsten.
Am Schluss spricht er noch einmal über seinen „sozialen Vater“. Als Thorsten ihn auf seine Zeugung durch Fremdsamen ansprach, hat dieser den Kontakt endgültig beendet. Mit einer Kurznachricht per Smartphone. Der Mann hatte nicht einmal den Mut, Thorsten noch einmal ins Gesicht zu schauen. „Ich hätte lieber keinen Vater gehabt als einen Falschen“, sagt er.
Hinweis: Seinen Namen möchte Thorsten nicht in der Zeitung lesen. Auch, um seine eigenen Kinder zu schützen. „Wir leben in einem Dorf“, sagt er. Zu seinem neu gefundenen Halbbruder hat Thorsten inzwischen Kontakt aufgenommen.
„Manche Spenderkinder fühlen sich wie ein Massenprodukt“
Interview mit Anne Meier-Credner. Die psychologische Psychotherapeutin ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins Spenderkinder und hat bereits die Bundesregierung sowie den Deutschen Ethikrat beraten. Sie weiß, dass Zeugung durch Samenspende viele Probleme mit sich bringt – für Eltern und Kinder. Auch deshalb fordert sie bessere gesetzliche Rahmenbedingungen.
Frau Meier-Credner, trotz des Namens Ihres Vereins haben Sie Schwierigkeiten mit dem Begriff Samenspende. Warum?
Ich verwende lieber den Begriff Samenvermittlung. Das Wort Spende verschleiert, dass Männer für eine Samenabgabe etwa 100 Euro erhalten. Das ist ein deutlicher finanzieller Anreiz. Und anders als bei einer Blutspende entsteht bei einer Samenvermittlung ein neuer Mensch. Studien zeigen, dass sehr viele Spenderkinder Kontakt zu ihren genetischen Vätern aufnehmen und von diesen auch als Person wahrgenommen werden möchten. Der Begriff Samenspende täuscht über die damit verbundenen zwischenmenschlichen Herausforderungen hinweg. Eigentlich handelt es sich um eine besondere Form der Familiengründung, meistens einer Familiengründung zu dritt.
Wie meinen Sie das?
Die Reproduktionsmedizin bietet „Samenspende“ als eine Art medizinische Behandlung an. An einer bestehenden Unfruchtbarkeit ändert sie jedoch nichts. Stattdessen werden durch die Befruchtung mit fremdem Samen Dritte beteiligt. Das Kind, das die sogenannten Wunscheltern bekommen, ist nicht ausschließlich das gemeinsame Kind, das sie sich wünschten, sondern genetisch das Kind von einem fremden Mann. Viele Paare, die hofften, die Samenvermittlung als einmaliges Ereignis hinter sich lassen zu können, stellen später fest, dass dies so einfach nicht ist.
Warum nicht?
Sie wissen ja, dass das Kind noch einen genetischen Vater hat. Vielleicht erkennen sie diesen ihnen unbekannten Mann an Äußerlichkeiten ihres Kindes, die ihnen fremd erscheinen. Oder sie werden durch gut gemeinte Kommentare von Außenstehenden an fehlende oder nur vermeintlich vorhandene Ähnlichkeiten zwischen Wunschvater und Kind erinnert.
Eine Elternschaft über Fremdsamen scheint einige Herausforderungen mit sich zu bringen, die natürliche Zeugungen nicht haben.
In der Tat. Sogenannte Wunscheltern haben eine asymmetrische Verbindung zum Kind: Es ist genetisch mit der Mutter verwandt, aber nicht mit dem Wunschvater. Der Wunschvater ist möglicherweise verunsichert, ob das Kind ihn als Vater akzeptiert. Die Wunschmutter wiederum ist schwanger von einem Mann, den sie nicht kennt. Damit diese Gedanken und Gefühle nicht im Untergrund wirken, ist es hilfreich, wenn die Wunscheltern darüber offen sprechen.
Gibt es noch andere Besonderheiten?
Eine weitere Herausforderung kommt auf die Eltern möglicherweise hinzu, wenn ihr Kind später Kontakt zu dem genetischen Vater aufnehmen möchte. Hier wäre es wünschenswert, dass sie das Kind dabei unterstützen. Selbst dann, wenn es für die Eltern schmerzhaft ist, anzuerkennen, dass noch jemand anderes für ihr Kind eine besondere Bedeutung haben könnte.
Mit welchen Problemen haben die Kinder aus Samenvermittlungen zu kämpfen?
Nach wie vor erfahren viele Spenderkinder erst spät von ihrer Entstehungsweise. Menschen, die zum Beispiel erst als Erwachsene davon erfahren, erleben dies häufig als Vertrauensbruch in der Beziehung zu ihren Eltern. Zudem werden einige Spenderkinder nicht direkt durch die Eltern aufgeklärt, sondern erfahren von DNA-Datenbanken, die sich auf die Verwandtensuche spezialisiert haben, von Halbgeschwistern. Ein weiteres großes Problem ist, dass sie oft auf Vorbehalte oder Ablehnung stoßen, wenn sie Kontakt mit dem genetischen Vater aufnehmen möchten, weil der nicht darauf vorbereitet ist.
Wie beurteilen Sie die Geschichte von dem Spenderkind Thorsten, die wir hier erzählt haben?
Dass Eltern so lange schweigen und auf Nachfrage sogar leugnen, ist nicht ungewöhnlich. Auch wissen wir von anderen Fällen, in denen als unfruchtbar geltende Väter später doch noch ein leibliches Kind bekommen haben. Die emotionale Distanz, die Thorsten zu seinem sozialen Vater beschreibt, kenne ich aus den Schilderungen manch anderer Spenderkinder.
Was wünschen Sie sich vom Gesetzgeber?
Die Einrichtung eines Spenderregisters im Jahr 2018, damit Spenderkinder ihre genetischen Väter leicht identifizieren können, war ein wichtiger Schritt. Wünschenswert wäre nun die Einführung einer Obergrenze. Manche Spenderkinder mit sehr vielen Halbgeschwistern fühlen sich wie ein Massenprodukt. Auch die genetischen Väter sind womöglich eher zu Kontakt bereit, wenn die Anzahl der Kinder überschaubar ist. Unser Verein Spenderkinder empfiehlt, einen sogenannten Spender höchstens für die Zeugung von Kindern in sechs Familien zuzulassen. So sollen sich alle untereinander als Individuen wahrnehmen können.
Eine Expertenkommission hat der Bundesregierung jüngst vorgeschlagen, auch die Eizellspende, die bislang hierzulande verboten ist, zu erlauben. Was halten Sie davon?
Dem Kommissionsbericht zufolge soll der Gesetzgeber bei einer Legalisierung von Eizellspenden dafür sorgen, dass keine Kommerzialisierung entsteht. Eine Lösung dafür sehe ich nicht. Erfahrungen aus Großbritannien, Österreich und den Niederlanden zeigen, dass sich ohne deutlichen finanziellen Anreiz kaum Frauen finden, die ihre Eizellen abgeben. Die Entnahme erfordert, dass sich die Frauen Hormone spritzen und anschließend einem operativen Eingriff unter Narkose unterziehen.
Was plant die Bundesregierung, was sagt die katholische Kirche
Das Wohl der Kinder steht an erster Stelle
Nachdem die Zeugung von Kindern durch Spendersamen in Deutschland bereits seit den 1970er Jahren erlaubt wurde, möchte die Berliner Ampel die Gesetzgebung zur Fortpflanzungsmedizin und dem sogenannten Reproduktionsrecht von Menschen weiter liberalisieren.
Im Frühjahr hat eine von der Bundesregierung bestellte Expertenkommission empfohlen, die bisher nach dem Embryonenschutzgesetz verbotene Eizellspende zu erlauben. Die FDP würde am liebsten auch die bioethisch besonders umstrittene Leihmutterschaft gestatten, was wiederum die Kommission kritisch sieht. Mit den angedachten Reformen will die Koalition Menschen, egal ob hetero- oder homosexuell, weitere Möglichkeiten zur künstlichen Zeugung eines Wunschkinds einräumen.
Aushöhlung des Lebensschutzes
Während Frauenrechtlerinnen und Queer-Verbände die Reformideen begrüßten, stießen sie bei den Kirchen auf Ablehnung. Ihr Verdacht: Die Ampel bereite mit der öffentlichen Diskussion über die Liberalisierung der Reproduktionsmedizin sowie den zeitgleichen Überlegungen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs einer Aushöhlung des Lebensschutzes das Feld. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, kritisierte, die Regierungskommission spreche dem ungeborenen Kind die volle Menschenwürde ab. „Das halten wir für falsch.”
„Die Zeugung des Kindes darf nie als ein Herstellungsverhältnis betrachtet werden“
Bätzings Kritik deckt sich mit der lehramtlichen Erklärung des Vatikans „Donum Vitae“ aus dem Jahr 1987. Für die katholische Kirche beginnt das menschliche Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Ein Embryo hat demnach die gleichen Personenrechte wie Neugeborene oder Erwachsene. Neben der Leihmutterschaft lehnt die Kirche auch die sogenannte heterologe künstliche Befruchtung entschieden ab, weil damit soziale und biologische Elternschaft auseinanderfallen. Bei einer heterologen Befruchtung werden, anders als bei einer homologen In-vitro-Fertilisation, fremde Ei- oder Samenzellen verwendet, die nicht von den sogenannten Wunscheltern stammen.
In einer gemeinsamen Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken „zu ethischen Fragen der Fortpflanzungsmedizin“ aus dem Jahr 2019 wurde die Haltung der Kirche zur Eizellspende noch einmal präzisiert. Darin heißt es unter anderem, dass die Zeugung des Kindes angesichts der zunehmenden Kommerzialisierung der Reproduktionsmedizin nie „als ein Herstellungsverhältnis betrachtet werden“ darf. So verständlich das Leid von Menschen über einen unerfüllten Kinderwunsch auch sei, müsse in der Fortpflanzungsmedizin mit ihren „stetig wachsenden Möglichkeiten“ immer das Wohl der ungeborenen Kinder an erster Stelle stehen.
Des Weiteren handelt es sich bei der Eizellspende, im Gegensatz zur gesundheitlich gefahrlosen Samenspende von Männern, um einen operativen Eingriff, der ebenso wie die zuvor notwendige Hormonbehandlung für die Spenderin nicht frei von Risiken ist. Bei den Empfängerinnen von fremden Eizellen wurden häufiger Herz- und Kreislaufprobleme beobachtet, „was auf immunologische Reaktionen des Körpers der Schwangeren auf das nicht genetisch mit ihr verwandte Kind zurückgeführt wird“, heißt es in der Stellungnahme.