Theaterfamilie Gassenhauer zeigt neues Stück in Aurich
Wie eine Marionette
Foto: Delia Evers
Die Theaterfamilie Gassenhauer aus Aurich führt Ende August das Bühnenstück „Wie eine Marionette“ auf. Klingt nach einem netten Puppenspiel, ist aber keins und schon gar nicht nett. Es geht um Menschen, die zu Marionetten gemacht werden. Die Spielschar des sozio-kulturellen Vereins greift erneut ein wichtiges Thema auf: Verführung von Kindern und Jugendlichen bis hin zu sexuellem Missbrauch, angebahnt über soziale Medien.
Seit zehn Jahren trägt die Theaterfamilie Gassenhauer, die ihre Wurzeln in der katholischen Kirchengemeinde St. Ludgerus in Aurich hat, die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen auf die Bretter. Die jungen Akteure kommen aus allen Gesellschaftsschichten, die Jüngsten sind acht Jahre. Einige haben selbst seelische und körperliche Verletzungen erlitten und verstehen es gerade deshalb, Leid und Last glaubwürdig zu mimen. Voller Empathie für andere entfalten sie ihre Aufführungen.
Zwei Frauen stehen von Beginn an hinter der Theaterfamilie: Elke Warmuth und Isburga Dietrich. Sie haben schon immer gern Theater gespielt und mit Weggefährten zunächst aus der katholischen Kirchengemeinde St. Ludgerus Aurich Kinder und Jugendliche auf die Bühne gelotst. 2013 starteten sie mit 20 Darstellerinnen und Darstellern die Proben. 2014 dann der erste große Auftritt: das Kriminalstück „Soko Aurich“. Viele Unterstützerinnen und Unterstützer aus den ersten Jahren begleiten die Gassenhauer bis heute. So arbeiten Menschen unterschiedlicher Generationen mit Kindern und Jugendlichen aus allen Gesellschaftsschichten und sozialen Umfeldern.
Das Werk geht unter die Haut
Und jetzt also das neue Stück über Verführung im Netz. Ungezählte Minderjährige sind jedes Jahr in Deutschland von dem sogenannten Cybergrooming betroffen. Das Theater zeigt, wie Täter die Unsicherheit junger Menschen ausnutzen. Die spüren, wie ihre Körper sich verändern und erwachsen werden. Viele fühlen sich unwohl in ihrer Haut und suchen nach Orientierung. Auf beliebten Plattformen wie Instagram und TikTok werden sie fündig – in Modelshows, Schmink-Tutorials und Filmchen über Körpertrends. Sie wollen aussehen wie diese virtuell erzeugten, superschlanken „Schönheiten“. Nicht unvollkommen, pickelig und „pummelig“, sondern „perfekt“.
In dem Theaterstück lassen sie sich von einem Magercoach (ver)führen, der ihnen übers Netz seine Dienste anbietet. Er heuchelt Empathie für seine jungen Opfer, ködert sie mit Lob und Zuspruch, bis sie psychisch abhängig sind. Dann kippt die Stimmung. Kein Lob mehr, kein Zuspruch. Stattdessen Beleidigungen, Liebesentzug. Die Betroffenen wollen den Zuspruch zurück und tun alles, um ihn zu bekommen, verschicken sogar angeforderte Nacktbilder. Der Täter ist am Ziel. Die Opfer hängen wie Marionetten in seinen Fängen. Sie schweigen aus Angst und Scham, lassen zu, was der Täter will.
Das Werk geht unter die Haut. Zugleich bewahrt es Publikum und Schauspielerteam bewusst vor den Bildern von Missbrauch. Das Skript stammt wie immer aus der Feder von Elke Warmuth und Isburga Dietrich, den Initiatorinnen der Theaterfamilie. Mit Theaterpädagoge Claus Gosmann begleiten sie die Spielschar, bis die Rollen „sitzen“ – auch dank der Begleitung von Liedermacher Jann Janssen mit seinen Text- und Musikkompositionen. Diesmal haben sie im Stück noch Raum für eine kleine, mitten hinein gewobene Kriminalgeschichte geschaffen, in der sich die jüngsten „Gassenhauer“ unbefangen austoben können. Auch sie haben es mit einem Täter zu tun. Der klaut zwar nur Süßigkeiten, muss aber – wie in der großen Geschichte – mit gemeinsamer Kraft gestellt werden.
„Wie eine Marionette“ beschreibt in zwei Stunden die Lebenswirklichkeit vieler Minderjähriger: einerseits überbehütet von Eltern, andererseits allein gelassen mit der „großen Freiheit“ und den Gefahren im Netz. „Wer zieht in meinem Leben die Fäden? Was tut mir gut, was schadet mir? Wie halte ich Übergriffen stand?“ Um solche Fragen geht es. Die Antworten im Stück sind ein Mittel gegen Manipulation und Übergriffe, sind eine Ermunterung zu Eigenstärke und Selbstwirksamkeit.
Wie bei den früheren Aufführungen kommen Monate vor der Premiere wöchentlich bis zu 40 junge Familien-Mitglieder im Forum der IGS Aurich zusammen, feilen und üben gemeinsam mit dem Theaterpädagogen und Regisseur Claus Gosmann, der einzige Profi in der Crew. Die Erwachsenen nutzen die Fähigkeiten, die die Darstellerinnen und Darsteller mitbringen. In Spiel, Musik und Tanz mit großen und kleinen maßgeschneiderten Rollen lernen sie nebenbei Schlüsselkompetenzen wie Ausdauer und Zielstrebigkeit, Eigenverantwortung und Respekt, Offenheit und Flexibilität. Die Anstrengung über Monate beenden sie auf richtiger Bühne und vor großem Publikum mit einem Erfolgserlebnis: den öffentlichen Aufführungen. Die Erfahrung begleitet sie ihr Leben lang. Tausende Zuschauerinnen und Zuschauer tragen die Erfolge begeistert mit und bescheinigen dem Team eine außerordentliche Leistung.
Delia Evers
Chronik
2013 starteten die Gassenhauer mit 20 Jugendlichen. Seither proben einmal wöchentlich bis zu 40 Familienmitglieder auf der Bühne der IGS Aurich.
2014 führte die Theaterfamilie ihr erstes Theaterstück „Soko Aurich“ auf.
2015 folgte das Werk „Die Kiese“. 40 Jugendliche waren beteiligt – unter anderem an einem öffentlichen Demonstrationszug durch die Auricher Innenstadt. .
2016 gaben sich die Gassenhauer „nicht keimfrei“: Zum Welthygienetag führten sie sich in einem Stück für Kreisvolkshochschule und Senioren- und Pflegestützpunkt Niedersachsen wie Staphylokokken auf.
2017 brachten sie vor großem Publikum die Märchenoper "Das Goldene Herz" in die Stadthalle und zeigten, was viele von ihnen selbst erlebt hatten: Ausgrenzung, physische und psychische Gewalt, Krieg und Flucht.
2018 spielte die Theaterfamilie auf Bitten der Alzheimer Gesellschaft Aurich/Ostfriesland zum Welt-Alzheimertag in der Stadthalle das selbst geschriebene Stück „Wenn du verschwindest.
2019 brachte sie das Stück leicht verändert auf vielfachen Wunsch erneut auf die Bühne.
2021 ließen die Kinder und Jugendlichen sich unter strikten Pandemie-Auflagen vom Hungertuch, einer Misereor-Aktion, inspirieren. In der katholischen St.-Ludgerus-Kirche zeigten sie, welchen Blick sie auf Habenwollen und Hungertuch, Habgier und Teilen haben.
2023 traten die Gassenhauer zum 50. Geburtstag der IGS Aurich wieder mit einem „ansteckenden“ Stück auf: Erneut waberten Staphylokokken über die Bühne, diesmal des Schul-Forums.
Das Theaterstück geht am Freitag, 30., und Samstag, 31. August, jeweils ab 19 Uhr über die Bühne der Stadthalle Aurich. Der Eintritt ist frei. Gern darf gespendet werden. Schirmherr ist Bürgermeister Horst Feddermann.