Überlastung verhindern

Die Kunst der Zerstreuung

Image
Eine grauhaarige Frau mit Pferdeschwanzfrisur und in Jeansjacke sitzt auf einer Wiese und betrachtet das Bergpanorama bei Salzburg.
Nachweis

istockphoto/Guzel Kolobova

Caption

Erholung in der Natur: Die Gedanken frei schweifen zu lassen ist entlastend für unser Gehirn. 

Von einer Aufgabe zur nächsten zu springen, überlastet den Arbeitsspeicher im Gehirn. Die Menschen werden unkonzentriert und es bleibt weniger im Langzeitgedächtnis haften. Gegen die Hektik unserer Zeit empfiehlt Neurologe Volker Busch die „Tiefen Stunden“.

Tür zu und mal eben schnell was wegarbeiten – das gelingt Beschäftigten, die im Büro arbeiten, heutzutage selten, denn selbst wenn keine Kollegen ins Zimmer platzen, drängen sich Ablenkungen durch E-Mails, Telefonanrufe und das Pling auf dem eigenen Smartphone ins Bewusstsein. Und zack, ist man wieder rausgerissen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass das Zurückkehren zum Gedankengang oft genauso lange dauert wie die Zeit der Unterbrechung.
Das fragmentierte Arbeiten macht unproduktiv und unzufrieden und es belastet die Gedächtnisleistung. Die Menschen können sich immer weniger merken und nur schlecht konzentrieren. „Etwas ADHS haben wir heute alle“, schreibt der Neurologe und Psychiater Volker Busch in seinem Buch „Kopf frei!“ und greift die Debatte um Aufmerksamkeitsstörungen auf. Er gibt aber gute Tipps, wie man sein Gehirn vom Störfeuer der Ablenkungen entlasten kann.  

Aufmerksamkeit stärken
Ein Schritt kann sein, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu richten, die einem wirklich wichtig sind. Weil das menschliche Gehirn alle eintreffenden Informationen zunächst in eine Art Arbeitsspeicher schickt, um sie dort zu verarbeiten, ist es wichtig, Dinge, die wir uns merken wollen, bewusst aufzunehmen und nicht sofort etwas Neues zu beginnen. Die Informationen müssen im Arbeitsspeicher einige Minuten ihre Runden drehen (tatsächlich geht es um elektromagnetische Schwingungen der beteiligten Hirnareale), damit sie dann im Langzeitgedächtnis gespeichert oder als unbedeutend verworfen werden. Der Arbeitsspeicher des Gehirns ist in seiner Aufnahmekapazität begrenzt, dort konkurrieren die Hinweise unseres Bankberaters mit den Katzenvideos, die wir anschauen.

Mythos Multitasking
Multitasking – also die Fähigkeit, mehrere Aufgaben gleichzeitig gut zu erledigen – gibt es nicht, stellt Volker Busch klar. Es handelt sich vielmehr um parallelisiertes Arbeiten, bei denen die Aufmerksamkeit hin und her geht, also „Task-Switching“. Dabei muss jedes Mal gedanklich neu angesetzt werden; Ausnahme sind Arbeiten aus derselben Aufgabengruppe: Wenn Sie einen Text über Pinguine im Zoo schreiben und zu dem Thema im Internetlexikon nachschlagen, wie die größte Pinguinart heißt, bleiben Sie beim Thema. Wer aber Zahlenreihen aufschreibt und dann das Alphabet aufsagen soll, beginnt eine neue Aufgabe, für die unser Gehirn Zeit zum Umschwen­ken braucht.

Aufmerksamkeitsdefizit mindern
Wer es im Arbeitsalltag nicht vermeiden kann, dass er zwischen verschiedenen Aufgaben umschalten muss, für den hat der Autor den Tipp, zwischen den Tätigkeiten etwas Zeit zu lassen. „Wechseln Sie also nicht direkt von einer Sache zur nächsten, sondern lehnen Sie sich im Stuhl zurück, atmen Sie dreimal durch und schauen Sie ein paar Sekunden lang aus dem Fenster.“ So könne man den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf ein neues Ziel ausrichten.

Informationen verarbeiten
Der Mensch kann nur eine bestimmte Anzahl an Informationen verarbeiten. Er merkt sich fünf bis sieben Dinge, die er aus dem Supermarkt mitbringen will, sind es mehr, braucht er einen Einkaufszettel. Wer im Internet ein Hotel aussuchen will, nimmt am Ende das Angebot mit den schönsten Fotos – zu viele Informationen zu Pool, Strand, Büfett, Bar und Fahrradverleih können überfordern. 
Wer sich etwas merken will, sollte sich  Zeit dafür nehmen und kurze Pausen machen, um über das Gelesene oder Gesehene nachzudenken. Wer beispielsweise eine Dokumentation im Fernsehen sieht, darf nicht gleichzeitig auf den Handybildschirm schauen. Nach der Sendung sollte man ausschalten, „so kann das Gehirn hinterherkommen und die aufgenommenen Informationen gründlicher verarbeiten“, schreibt Busch.

Tiefe Stunde der Selektion
Viele der Informationen, die auf uns einprasseln, filtert das Gehirn aus. Das, worauf die selektive Aufmerksamkeit gerichtet war, bleibt hängen. Sich ganz bewusst auf Dinge zu fokussieren, kann man üben, in einer „Tiefen Stunde der Selektion“. Busch empfiehlt, sich täglich 15 bis 30 Minuten Zeit zu nehmen, um innezuhalten, ohne Ablenkung die Umgebung zu beobachten, vielleicht im Museum oder in einem Café. Oder etwas ganz bewusst zu tun: einen Film im Kino anschauen statt im Fernsehen; beim Spaziergang der Person, mit der Sie unterwegs sind, gut zuhören und ungeteilte Aufmerksamkeit schenken.  

Tiefe Stunde der Konzentration 
Konzentration als Dauerzustand sei nicht möglich und auch nicht erstrebenswert, schreibt Volker Busch. Er empfiehlt aber, sich täglich eine „Tiefe Stunde der Konzentration“ zu gönnen. Dazu schotten Sie sich im Büro ab und sagen Bescheid, dass Sie nicht gestört werden wollen. Man könne auch mit 30 Minuten anfangen, die Tiefe Stunde der Konzentration solle aber nicht länger als 60 Minuten gehen. Diese Zeit verwendet man auf eine Aufgabe, für die Konzentration erforderlich ist. Es geht nicht um das Checken von E-Mails, sondern um eine Sache, die fehlerfrei ausgeführt werden sollte. „Erledigen Sie in der Tiefen Stunde keine oberflächlichen Aufgaben, für die sie gar kein besonderes Maß an Konzentration benötigen“, schreibt Busch.

Das Ruhezustandsnetzwerk
Wer sich selbst etwas Gutes tun will, beachtet auch den Umstand, dass unser Gehirn nicht wie ein Computer funktioniert. Es verarbeitet neue Informationen und vergleicht sie mit schon gemachten Erfahrungen, welche individuell verschieden sind, und kommt zu verschiedenen Eindrücken. Dazu muss aber das Ruhezustandsnetzwerk unseres Gehirns im Hintergrund arbeiten können. 
Das Ruhezustandsnetzwerk ist nur dann aktiv, wenn wir nichts tun, auf das wir bewusst Aufmerksamkeit verwenden. Zum Beispiel beim Schlafen: Träume dienen oft dazu, die Gedanken des Tages aufzuarbeiten. Das Ruhezustandsnetzwerk ist an kreativen Prozessen beteiligt, es ist beim Tagträumen und Gedankenwandern aktiv. Es schaltet sich aus, sobald wir neue Informationen aufnehmen, beispielsweise beim Surfen im Internet.

Tiefe Stunde des Abschweifens
Neurologe Busch empfiehlt zur Pflege des Ruhezustandsnetzwerks die „Tiefe Stunde der Zerstreuung“, eine Zeit des  Abschweifens der Gedanken. Dazu nimmt man sich etwa 30 Minuten Zeit. Man muss nicht still auf einer Bank sitzen, die Zerstreuung kann auch beim Puzzeln, Stricken, Bügeln oder Rudern geschehen, manche Menschen erreichen diesen Zustand im Gottesdienst. Auch Spaziergänge, bei denen man sich zwanglos unterhält, können zur Zerstreuung beitragen. Die Tiefe Stunde des Abschweifens sei kein Achtsamkeitstraining, betont Busch. In der von ihm empfohlenen Tiefen Stunde sei Gedankenwandern ausdrücklich erlaubt, denn es erfülle eine therapeutische Funktion.


Volker Busch, Kopf frei! Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen. Droemer, 18 Euro. 

Andrea Kolhoff