Caritas-Präsidentin über die Pläne der Ampelkoalition
„Das scheint mir prinzipiell gelungen“
Die neue Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa lobt die sozialpolitischen Pläne der Ampelkoalition. Im Interview erklärt sie, was sie an die Ideen zu Klimaschutz, Bildung und Wohnungsbau gut findet, wo sie sich mehr Einsatz für Schwache wünscht – und was passieren muss, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist von Corona zwar oft die Rede. Doch meist geht es dabei um die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen. Die Bekämpfung der Pandemie selbst ist der neuen Regierung gerade mal fünf Zeilen wert. Wird das der dramatischen Lage gerecht?
Mein Eindruck ist, dass der Koalitionsvertrag an vielen Stellen die bisherigen Erfahrungen aus der Corona-Krise gut und auch recht umfassend aufarbeitet. So gibt es beispielsweise ein eigenes Kapitel zum Katastrophenschutz, in dem nicht nur die Erfahrungen aus Flut in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen berücksichtigt werden. Der Vertrag reflektiert auch, wie unser Gesundheitssystem große Krisen und Herausforderungen insgesamt besser bewältigen kann. Im Übrigen lese ich aus dem Vertrag das Bemühen heraus, zur Bewältigung kommender Katastrophen die Demokratie, die Bürgerbeteiligung sowie die Akteure vor Ort zu stärken.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Pandemie-Lage beziehungswiese was muss jetzt aus Sicht des Deutschen Caritasverbands schnell geschehen?
Die aktuelle Pandemie-Lage ist geprägt von erheblichen gesundheitlichen Gefährdungen, die mit den neuen Mutationen noch schwerer einschätzbar sind, aber auch von gesellschaftlichen Anspannungen und persönlicher Erschöpfung. Aus Sicht des Deutschen Caritasverbandes ist es herausragend wichtig, bei der Gestaltung der Infektionsschutzmaßnahmen diese soziale Dimension der Pandemie nicht aus dem Blick zu verlieren. Wir brauchen schnell eine höhere Impfquote und es lassen sich Kontaktbeschränkungen nicht vermeiden. Wir brauchen aber auch Hilfsangebote für einsame Menschen, für Menschen in Krisensituatioen. Ohne die Bereitschaft der vielen haupt- und ehrenamtlich Engagierten, in dieser Krise zu helfen, lassen sich die Herausforderungen der Pandemie weder schnell noch nachhaltig bewältigen.
War es richtig, dass die neue Koalition in ihrer ersten Amtshandlung die epidemische Lage von nationaler Tragweite aufgehoben hat?
Der Aufhebung der epidemischen Lage stand ich von Anfang an skeptisch gegenüber. Jede infektionspolitische Maßnahme einzeln zu beschließen, anstatt den Ermächtigungsrahmen der epidemischen Lage für ein abgestimmtes Notfall-Paket zu nutzen, war vor allem der FDP wichtig. Ich bin froh, dass die Schutzschirme für soziale Einrichtungen fortgeführt werden können. Sie gleichen coronabedingte Einnahmeausfälle aus und sind überlebenswichtig für viele Angebote der Caritas.
Derzeit werden in fast allen deutschen Krankenhäusern Operationen verschoben, Patienten werden quer durch die Republik geflogen. In vielen Kliniken deuten sich Triagen an. Was sollte hierbei beachtet werden?
Die Triage ist ein spezielles Verfahren zur Priorisierung medizinischer Hilfeleistungen bei unzureichend vorhandenen Ressourcen. Das Entscheidende ist hier, strukturiert vorzugehen. In der Notfallmedizin, etwa bei großen Zugunglücken, hat es sich bewährt, auf die Ärztinnen und Ärzte zu vertrauen. Nur sie können wirklich beurteilen, bei wem die medizinische Behandlung vielleicht noch etwas Zeit hat und wer Überlebenschancen hat und wer nicht. Der erfahrene Blick des Arztes lässt sich durch gesetzliche Vorgaben nicht ersetzen.
Deutschland diskutiert seit Wochen über eine Impfpflicht. Entweder für alle oder zumindest für bestimmte Berufsgruppen. Was ist Ihre Position?
Die gesundheitlichen Gefahren der Pandemie lassen sich nur mit einer hohen Impfquote bekämpfen – national wie international. Wir sind dankbar, dass es so schnell gelungen ist, sichere Impfstoffe zu entwickeln und in großen Mengen zu produzieren und dass sie vorrangig den Menschen in unseren sozialen Einrichtungen zur Verfügung gestellt wurden: den pflegebedürftigen Menschen und den Pflegekräften. Nun stellen wir fest, dass es in Deutschland doch eine verfestigte Impfskepsis gibt – mit unübersehbaren regionalen Schwerpunkten. Sie gefährdet den Erfolg der Impfkampagne insgesamt. Daher ist es unerlässlich, nicht nur weiter Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern auch über Verpflichtungen zu sprechen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht kommt jetzt und wir sind froh, dass sie nicht nur die Pflegekräfte betrifft. Um nicht das Bild zu erwecken, eine Berufsgruppe allein stünde hier in der Verantwortung, gilt es, den Kreis hier nicht zu eng zu ziehen. Nicht zuletzt deshalb spreche ich mich für eine bedingte allgemeine Impfpflicht aus.
Was heißt das konkret?
Man sollte beschließen, zu einem bestimmten Stichtag, etwa zum 1. März 2022, eine Impfpflicht für alle einzuführen für den Fall, dass bis dahin die Impfquote weiter unter 90 oder 95 Prozent liegt. Eine konkrete Zielmarke zu nennen, schafft Spielräume, um bis zum Stichtag noch einmal alle Kräfte für die Steigerung der Impfbereitschaft zu mobilisieren. Die Impfzentren müssen rasch wieder öffnen. Und Impfaktionen in Kirchen sollten unbedingt fortgeführt werden.
Abseits der Pandemie: Was gefällt Ihnen am Koalitionsvertrag?
Es geht den Koalitionspartnern offenkundig darum, den Bedürfnissen und Erwartungen unterschiedlicher Generationen gerecht zu werden. Das ist das Erste, was mir positiv aufgefallen ist. Man spürt, dass die Koalition ausdrücklich bemüht ist, keine Generation zu Lasten einer anderen zu übervorteilen. So wird beispielsweise einerseits das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt, auch die Bekämpfung der Kinderarmut bekommt einen hohen Stellenwert. Zugleich wird die Stabilisierung der gesetzlichen Rente angestrebt. Diese Mischung finde ich gewinnend und klug. Sie findet unsere volle Unterstützung.
Gerade in Sachen Klimaschutz aber stellen viele der Ampel ein schlechtes Zeugnis aus.
Das sehe ich anders. Wirksame Klimaschutzvorhaben, die unserem Verband seit langem ein wichtiges Anliegen sind, finden sich in fast allen Kapiteln des Koalitionsvertrages. So soll es beispielsweise beim Wohngeld künftig eine Klimakomponente geben. Und auch in der Verkehrspolitik bekommt der Klimaschutz Priorität. Neben dem Aus für den Verbrennungsmotor wurde der deutliche Ausbau der Schiene und des ÖPNV im Koalitionsvertrag festgeschrieben – leider ohne ein klares Bekenntnis zu einer sozial ausgerichteten Fahrpreispolitik. Immerhin soll es ein Klimageld geben, also eine Rückerstattung für infolge der höheren CO2-Preise steigende Heiz- und Energiekosten. Das ist gut. Effizienten Klimaschutz wird man nicht mit einem Instrument allein hinbekommen. Man muss das Ziel einer sozialen Klimapolitik in allen Ressorts verankern. Das scheint mir prinzipiell gelungen.
Und sonst?
Auch im Bereich der Bildung sehe ich viel Positives. Bildung soll jedem eine Zukunftschance geben. Der Koalition geht es nicht nur um die frühkindliche Bildung, um Schule oder den Aufbau digitaler Kompetenzen in der Ausbildung. Berufliche und allgemeine Weiterbildung werden für Menschen aller Alter angesprochen. Besonders wichtig: Die neue Regierung nimmt auch die Bildung und Ausbildung von Migrantinnen und Migranten in den Blick. Die im Ausland erworbenen Abschlüsse sollen leichter anerkannt werden, die Bildungsfreizügigkeit in der EU soll gestärkt werden und es wird neue Berufssprachkurse geben, um die Arbeitsmarktintegration von Migranten und Migrantinnen zu fördern. Das wird die Teilhabechancen vieler Menschen nachhaltig stärken und Armut vorbeugen.
Was vermissen Sie im Koalitionsvertrag?
Beim Arbeitslosengeld 2 fordern wir seit langen eine andere Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Die Leistungen sollen sich an den tatsächlichen Grundbedürfnissen orientieren und es den Menschen wirklich ermöglichen, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dazu lesen wir im Koalitionsvertrag leider nichts.
Dafür soll Hartz IV zukünftig Bürgergeld heißen. Bringt das Verbesserungen oder ist das nur ein neuer Name?
Als die ersten Sondierungsergebnisse vorgelegt wurden, hatte ich tatsächlich die Sorge, dass hier ein altes Konzept nur umgetauft wird. Aber Koalitionsverhandler bestätigen uns, dass sich wirklich etwas ändern wird. Die neue Koalition will künftig keine Sanktionen mehr zulassen, die die Existenz der Menschen gefährden. Auch die Sondersanktionen für Jugendliche sollen abgeschafft werden. Diese besonders harten Sanktionen kritisieren wir seit Jahren, weil sie oft dazu geführt haben, dass Jugendliche am Übergang zwischen Schule und Erwerbsleben komplett aus dem Hilfesystem herausgefallen sind.
Was vermissen Sie abgesehen von höheren Leistungen etwa in der Grundsicherung noch in den Plänen Ampel?
Zu meiner Herzensangelegenheit, den sogenannten Live-In-Care, lesen wir so gut wie nichts. Live-In-Betreuung wird von Assistenzkräften aus dem Ausland geleistet, die in den Haushalten ihrer Auftraggeber leben und arbeiten. Dieses weit verbreitete Modell häuslicher Entlastung muss fair gestaltet werden. Darüber hinaus beinhaltet der Koalitionsvertrag beim Lebensschutz nicht die ethischen Leitplanken, die wir uns gewünscht hätten.
Was genau meinen Sie damit?
Die Koalition hat nichts dazu gesagt, wie eine Gesetzgebung zum assistierten Suizid aussehen könnte. Es braucht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen Jahr unabdingbar ein einhegendes Suizidpräventions-Gesetz. Es scheint bei der SPD, den Grünen und der FDP mehrheitlich eine gewisse Sympathie für das heroische Freiheitspathos zu geben, das bereits das Verfassungsgerichtsurteil geprägt hat. Wir wünschen uns statt einer Überbetonung der Freiheitsrechte der Starken einen deutlich stärkeren Schutz für die Schwachen. Das gilt auch für den Schutz am Lebensanfang. Die Koalition möchte mit dem §219a das bisherige Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche abschaffen und scheint bereit, den einst mühsam ausgehandelten Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch infrage zu stellen. Das bereitet uns Sorgen.
Die Vereinbarungen der Ampel zur Pflege hat Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, als vertane Chance kritisiert. Sie hat vor allem moniert, dass es keinen Einstieg in eine Pflegevollversicherung gibt. Wie sehen Sie das?
Pflege ist ein so komplexes Thema, dass ich mich noch schwer damit tue, das Glas als eher halbleer denn als halbvoll zu bezeichnen. Die Pflege ist eine Dauerbaustelle, bei der man wohl nicht erwarten kann, dass eine Bundesregierung innerhalb von vier Jahren alle Probleme löst. Ich finde, dass in der Pflege bereits in der vergangenen Legislaturperiode eine ganze Menge geschafft wurde. Und ich habe den Eindruck, dass die neue Koalition zumindest im gleichen Tempo weitermachen möchte. Auch wenn bei der Pflegeversicherung der große Wurf fehlt, so wird es doch für pflegende Angehörige deutliche finanzielle Verbesserungen geben.
In der Gesundheitspolitik wird es, anders von SPD und Grünen angekündigt, keine Bürgerversicherung geben, in die alle einzahlen, also auch Selbständige, Unternehmer und Beamte. Der Paritätische Wohlfahrtsverband monierte daher, dass die Neuarchitektur der Sozialversicherung abermals ausgeblieben sei. Was sagen Sie?
In allen Zweigen der Sozialversicherung muss der Versichertenkreis erweitert werden. Da habe ich aber den Eindruck, dass die neue Regierung die richtigen Lehren aus der Pandemie noch nicht gezogen hat. Die Selbständigen waren nicht selten die großen Verlierer der Corona-Krise. Im Caritasverband kämpfen wir schon lange für eine bessere soziale Absicherung von Menschen mit hybriden Lebensläufen, die mal selbstständig, mal abhängig beschäftigt arbeiten. Gerade auch in der Rentenversicherung sind Menschen mit solchen Biographien nicht genügend abgesichert. Dass wir Selbständige in die Pflichtversicherung einbeziehen, ist absolut überfällig.
Die steigenden Mieten gelten schon länger als Armutstreiber Nummer eins. Mieterverbände kritisieren aber, dass es auch unter der neuen Regierung keinen bundesweiten Mietendeckel geben wird. Was ist Ihre Haltung?
Mich hat das Kapitel Bauen und Wohnen positiv überrascht. Ich bin kein Freund von Regelungen, die die Renditemöglichkeiten von Vermietern künstlich kappen. Dann werden noch weniger Wohnungen gebaut. Die steigenden Mieten werden vor allem angetrieben von der Wohnungsknappheit. Die Frage lautet daher: Wie schaffen wir es, dass wieder mehr in den Wohnungsbau investiert wird? Dazu hat die Koalition die richtigen Instrumente vorgelegt.
Welche zum Beispiel?
Die klare Verpflichtung der Bundesregierung zum Neubau von jährlich 100.000 öffentlich geförderten Wohnungen halte ich für ein wichtiges Signal. Beim sozialen Wohnungsbau hätte der Bund sich auch einen schlanken Fuß machen und ihn als Länderaufgabe definieren können.
So aber …
… sieht sich der Bund verantwortlich dafür, dass es bald mehr preiswerten Wohnraum gibt. Viele Mieterinnen und Mieter bleiben aktuell oft nur in ihrer teuren Wohnung, weil es nicht genug neue kostengünstige Wohnungen gibt. Der Mangel an Alternativen wird nicht zuletzt für junge Leute zum Problem. Gut, dass die Koalition in ihrem Vertrag ausdrücklich das junge Wohnen erwähnt, also die Schaffung von Wohnraum für Studentinnen und Studenten, Auszubildende. Darüber hinaus sollen alle Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern verpflichtet werden, einen qualifizierten Mietspiegel vorzulegen, und es gibt vernünftige Vorschläge zur Grunderwerbssteuer. Als sozial ambitioniert fällt uns vor allem auf, dass sich die neue Bundesregierung das Ziel setzt, die Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030 zu überwinden. Dafür soll ein nationaler Aktionsplan aufgelegt werden. Nicht zuletzt auf dieses Vorhaben setzen wir große Hoffnungen.
Interview: Andreas Kaiser
Zur Person:
Eva Maria Welskop-Deffaa (62) ist seit November 2021 Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes. Davor war sie seit dem Jahr 2017 Mitglied des Vorstands, zuständig für Fach- und Sozialpolitik. Zuvor hat sie von 1999 bis 2006 im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) das Referat Wirtschaft und Gesellschaft geleitet; von 2006 bis 2012 arbeitete sie als Ministerialdirektorin im Bundesfamilienministerium; von 2013 bis 2017 leitete sie im Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft verdi das Ressort Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Als Caritas-Präsidentin ist sie nun für sechs Jahre gewählt worden.