Drei Fragen an … Winfried Verburg.

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Porträtfoto von Winfried Verburg
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Foto: privat

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Winfried Verburg leitete bis zum vergangenen Jahr die Schulabteilung des Bistums Osnabrück.

Woran denken Sie, wenn Sie das Stichwort „9. November“ hören?

Ich denke an Artikel 1 Absatz 1 unseres Grundgesetzes, das heuer 75 Jahr alt wurde: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und daran, dass diese Würde den jüdischen Bürger:innen am 9. November 1938 von der staatlichen Gewalt und vielen nichtjüdischen Bürger:innen im damaligen deutschen Reich nicht nur vorenthalten wurde, sondern ihnen durch Demütigungen genommen wurde. Diese Demütigungen sind besonders erschreckend und wirksam, worauf der Philosoph Peter Bieri hinweist, wenn Menschen erleben müssen, wie sehr ihre Ohnmacht von ihrem Urheber genossen wird. Genau das ist am 9. November 1938 und in der Folgezeit geschehen, in denen Jüdinnen und Juden ihre Rechte entzogen, sie gedemütigt und getötet wurden.  

Warum sollten sich Christ:innen für die jüdischen Bürger:innen einsetzen?

Die Antwort ist einfach: Weil sie Bürger:innen dieses Landes sind, die nur noch unter Polizeischutz ihre religiösen Feiern begehen können und antisemitische Gewalt erfahren haben und zukünftig fürchten müssen. Wenn wir als Christ:innen nicht wollen, dass wir unsere Religion nur noch unter Polizeischutz ausüben und uns in der Öffentlichkeit nicht mehr als Christ:innen erkennbar zeigen, darf es uns nicht gleichgültig lassen, wenn genau dies Realität für Jüd:innen in unserem Land ist.

Als Bürger:innen darf es uns nicht gleichgültig lassen, weil eine Demokratie auf der Würde aller Bürgerinnen und Bürger und auf der Zusage gleicher Rechte beruht. Antisemitismus und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sprechen Gruppen der Gesellschaft beides ab und rütteln damit am Fundament des demokratischen Rechtsstaates. Wer die Demokratie erhalten will, darf nicht – wie viele am 9. November 1938 – tatenlos zusehen, wie Mitgliedern der Gesellschaft Würde und Rechte vorenthalten werden.

Als Christ:innen darf es uns nicht gleichgültig lassen, wofür wir die Begründung bei Paulus im Römerbrief finden, wo er das Verhältnis zwischen den „Juden“ und „Christen“ mit einem Bild aus dem Gartenbau beschreibt: Die „Christen“ sind ein Zweig eines wilden Ölbaums, der in den edlen Ölbaum des Judentums eingepfropft wurde, damit dieser Anteil erhält an der kraftvollen Wurzel. Paulus schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, son-dern die Wurzel trägt dich.“ (Röm 11,18). Als Christinnen und Christen leben wir von dieser Wurzel – wie könnte es uns da gleichgültig lassen, wie es der Wurzel und dem anderen Zweig geht?

Was ist das Anliegen der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit?

In der jungen Bundesrepublik wurden auf Initiative der westlichen Siegermächte die ersten der heute bundesweit rund 80 Gesellschaften gegründet, um einen Dialog zu ermöglichen zwischen der damaligen christlichen Mehrheitsgesellschaft und den nach der Shoa in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden. Sie gehören zu den ältesten nichtkirchlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Bundesrepublik. Im Gebiet des Bistums Osnabrück sind derzeit vier Gesellschaften aktiv, in Lingen, Nordhorn, Ostfriesland und Osnabrück. Diese Gesellschaften setzen sich aktiv ein gegen Antisemitismus in Gesellschaft und Kirchen, für eine Erinnerungskultur an das Unrecht, das Jüdinnen und Juden in der Geschichte angetan wurde, für eine Begegnung von Jüd:innen und Christ:innen, aber auch von Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen, für den interreligiösen Dialog. Sie arbeiten unabhängig von den Religionsgemeinschaften und sind offen für Menschen aller Weltanschauungen, die ihre Anliegen teilen.

Am 9. November finden im Bistum Osnabrück viele Gedenkveranstaltungen statt. Eine Übersicht finden Sie hier.

Andrea Kolhoff

Winfried Verburg ist Mitglied des Beraterkreises des Niedersächsischen Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens und Sprecher der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenar-beit Osnabrück e.V. In dieser Funktion hat er Solidaritätswachen vor der Osnabrücker Synagoge an jüdischen Feiertagen koordiniert.