Nur Fahrgast auf Erden?

Heimat – „wie im Himmel, so auf Erden“: In der siebten Folge der Jahresserie geht es um die Abkürzung „du“ (dauernd unterwegs) – und um den Heimatverlust in der Mobilität. Was macht ständiges Pendeln, Reisen, Umziehen mit uns? Wie fühlen sich moderne Nomaden? Ist Sesshaftigkeit nicht doch besser? Eine Spurensuche und ein „Lob des Zuhause-Seins“. Von Anja Weiffen.

Es war einmal eine Tür. Eine Tür, die Besuchern immer offen stand. Und ein Opa, der immer zuhause war. Meistens jedenfalls. Wenn er nicht in der Küche saß, werkelte er im Keller oder arbeitete im Garten bei seinen Apfelbäumen. Die Äpfel waren so rot wie Rubine. Sie schmeckten nach Rosen … Erinnerungsfetzen aus einer Zeit, in der ich meine, dass die Leute noch abends auf ihrer Bank vor dem Haus gesessen hätten.
Statt Apfelgärten und Hausbänken gibt es in einer Stadt Balkone. Viele Balkone. Doch Menschen sehe ich dort selten. Ob morgens, mittags, abends. Meist starren einen leere Tische und Stühle an. Es gibt Ausnahmen: wenn mobile Nachbarn spätabends zur Party einladen. Dann tummeln sich so viele Menschen auf drei Quadratmetern wie während zwei Monaten nicht.
Drohen uns japanische Verhältnisse?
Manche Leute treiben es mit ihrer Mobilität so auf die Spitze, dass sie ihr Heim gleich ganz abschaffen. So wie Leonie Müller, Jahrgang 1992, die ihre Wohnung gegen eine Bahncard 100 tauschte und darüber ein Buch schrieb. Skeptisch blicke ich aufs Titelbild. Die junge Frau mit Rucksack, die lächelnd auf dem Cover abgebildet ist, scheint zehn Zentimenter über dem Boden zu schweben. Abgehoben. Ist das Mobil-Sein so beglückend? Bedeutet „dauernd unterwegs“ wirklich Freiheit und Fortschritt? Ließ nicht schon der antike Dichter Homer Odysseus unglücklich durchs Mittelmeer irren?
Stichwort Pendeln: Immer mehr Arbeitnehmer pendeln. Waren es im Jahr 2000 noch 53 Prozent, stieg der Anteil 2015 auf 60 Prozent, wie das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung mitteilt (siehe auch „Zur Sache“). Pendler stecken oft in einer Zwickmühle. Für das Häuschen im Grünen zahlen sie mit Zeit im Auto oder im Zug. Bisher war das im Großen und Ganzen eine freiwillige Sache. Je nach Arbeitsbedingungen und Pendlerstrecke sicher gut machbar. Inzwischen wendet sich das Blatt. Weil steigende Mieten in Innenstädten manche Familien zur Zwangsmobilität verdonnern. Normalverdiener wie Krankenschwestern oder Polizisten finden dort, wo sie arbeiten, immer weniger bezahlbare Wohnungen. Von Menschen mit Mindestlohn ganz zu schweigen.
Drohen uns japanische Verhältnisse? In Japan fahren Arbeitnehmer bis zu zwei Stunden, um zuhause wenige Stunden Zeit zu verbringen. Macht es dann – zugespitzt gefragt – nicht mehr Sinn, gleich im Auto zu wohnen, wie dies arme Menschen in den USA tun? Überall für den Arbeitsmarkt verfügbar? Aus den USA kommt auch die Luxus-Variante: das „Tiny House“. Ein Mini-Holzhaus, das man überall hinstellen kann, wo’s schön ist. Keine schlechte Idee, wenn man den Stellplatz bezahlen kann.

– der Versuch, sich ein Zuhause
zu schaffen und zu erden.
Foto: Anja Weiffen
Das Gefühl, mit dem eigenen Schneckenhaus unterwegs zu sein, preist Studentin und Buchautorin Leonie Müller. Sie genießt mit ihrer Bahncard 100 die Freiheit, innerhalb weniger Stunden an jedem Ort in Deutschland sein zu können, ohne dass ein Zuhause mit Blumengießen und Putzen nervt. Sie lobt die Verbundenheit mit den Menschen im Zug. Auch Freunde und Familie sehe sie nicht weniger. Der Haken: Sie hat nicht, wie Jesus es vielleicht getan hätte, ihren Hausrat verkauft, sondern bei Freunden und Verwandten untergestellt. Gut, wenn die noch einen Keller haben und „zuhause“ sind. Taugt Müllers Versuch wirklich als Lebensentwurf, wie der Titel des Buchs suggeriert? Oder ist er nicht fast dasselbe wie mit dem Interrail-Ticket durch Europa zu tingeln, bevor der Ernst des Lebens ansteht? Das hat die Generation ihrer Eltern bereits getan. Wollen Menschen wirklich so leben? Will ich mir wirklich eine Pizza Margherita vom Pizza-Service statt nach Hause in den Bahnhof ans Gleis 2 bringen lassen?
Bahnhöfe, Flughäfen, Tankstellen, Hotelketten, Flüchtlingslager, Autobahnen, Einkaufszentren schießen wie Pilze aus dem Boden. Diese Durchgangsorte nennt der französische Ethnologe Marc Augé Nicht-Orte. Funktionalität prägt diese Nicht-Orte. Sie haben keine Geschichte, keine Identität, keine sozialen Bezüge. „Der Raum der Nicht-Orte schafft Einsamkeit und Gleichförmigkeit“, ist Augé überzeugt. Bahnhöfe und Flughäfen zeichnen sich durch Anonymität aus. Paradoxerweise werden Menschen genau dort durch ihre Verträge, die sie etwa mit ihrer Scheckkarte tätigen, bestens durchleuchtet.
Mobile Menschen, ob freiwillig oder unfreiwillig, sind zunehmend Getriebene. Aus dem fast getragenen Lied von Hannes Wader „Heute hier, morgen dort“ ist inzwischen Helene Fischers „Atemlos durch die Nacht“ geworden. Aber wer dauernd unterwegs ist, – darauf erpicht, nichts zu verpassen – verpasst wirklich etwas: das Ankommen. Vor allem bei sich selbst.
Moderne Nomaden pflegen keine Gärten
Moderne Nomaden pflegen keine Gärten. Sie sind ja nie da. Sie räumen auch nicht die Kaffee-to-go-Becher weg, die sie hinterlassen, wenn sie durch die Straßen ziehen. Wie war das noch mit der Globalisierung: Die Welt wird zum Dorf? Wohl eher zur Tanke: Auto auffüllen, mit Rabatt bezahlen, abhauen.
Etwas pflegen, sich um etwas und jemanden sorgen, ist uncool geworden. Ein Zeitfresser. Zeit ist Geld. So wird einem wie von unsichtbarer Hand nicht nur die Lebenszeit abgekauft. Auch das Zuhause wird einem noch unter dem Hintern weggezogen. Denn heute gilt auch: Ort ist Geld. Ob Mondpreis-Mieten in München, Berlin, Frankfurt oder Landraub in Brasilien und Ostdeutschland: Raum und Zeit sind inzwischen teuer geworden. Die Sorge um das gemeinsame Haus, wie Papst Franziskus in seiner Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ fordert, bleibt auf der Strecke.
Lieb und teuer ist mir daher die Erinnerung an Opas Apfelgarten. Die Liebe zur Schöpfung gab Opa Kindern und Kindeskindern mit. Heute erden mich in mobilen Zeiten zwei Hauskatzen. Weniges ist schöner als das Schnurren einer Katze, um auf Erden auf dem Teppich zu bleiben.